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Viktor Orbáns Rede auf dem Kongress des Verbandes der Christlichen Intellektuellen (Keresztény Értelmiségiek Szövetsége, KÉSZ)

14. September 2019, Budapest

Ich wünsche einen guten Tag! Sehr geehrter Herr Kardinal, hochehrwürdige Herr Bischöfe! Sehr verehrter Herr Parlamentspräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Vater Osztie und liebe Brüder!

Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, wir haben sie gemeinsam durchgemacht. Ja, wir haben sie gemeinsam durchgekämpft, gemeinsam und zusammen. Wenn auch mit Diskussionen, so verbindet uns mit Ihnen Schulter an Schulter Waffenbrüderschaft und Kameradschaft. Ich danke Ihnen für diese dreißig Jahre, es war gut, mit Ihnen gemeinsam zu kämpfen. Dreißig Jahre, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind ein guter Anlass zum Resümieren. Die mir zugebilligten mageren zehn Minuten reichen dazu nicht aus. Diese dreißig Jahre verdienen mehr, viel mehr: Konferenzen, Analysen, gemeinsames Nachdenken, mehrere Bände umfassende Gedanken und Meinungen. Was ich heute hier geben kann, wenn auch nicht in zehn, so doch in fünfzehn Minuten, das sind nur einige Gedanken, ein Entwurf, eine Skizze, wenn man will: Grundlinien, doch hoffe ich, dass dies für Sie nicht uninteressant sein wird. Dreißig Jahre mit den Augen eines Ihrer Mitstreiter.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Vorsitzender!

Heute ist es schon deutlich erkennbar, dass in Ungarn ein neues und tatsächliches staatstheoretisches und politiktheoretisches Modell entstanden ist, wir dieses geschaffen haben. Wir haben einen eigentümlichen christlich-demokratischen Staat geschaffen. Es ist auch deutlich zu sehen, dass wir hierhin in zwei großen Schritten gelangt sind. Dazu war ein zweimaliger Systemwechsel notwendig. Der erste Systemwechsel hat 1990 die sowjetische Welt beendet, ich könnte auch sagen: Sowjets raus, Kommunisten nieder, Freiheit hoch. Das war der erste, – wenn man es so will – der liberale Systemwechsel, das Freiwerden, die Befreiung von der Unterdrückung. Das Zeitalter der Freiheit von dem Etwas, der Besatzung und der Diktatur – der liberale Systemwechsel. Das hatte natürlich eine liberale Demokratie zum Ergebnis, in deren Mittelpunkt die liberale Freiheit, die Freiheit von dem Etwas stand. Es gab schon damals Menschen, die bereits damals erkannt, gewusst und gesagt hatten, Sie früher, ich später, dass dies so nicht gut sein wird – genauer formuliert: Dies wird nicht genug sein. Es wird nicht ausreichen zu sagen, wovon wir frei sein wollen. Man muss auch die Antwort auf die Frage finden, wofür wir frei sein wollen. Wozu wollen wir unsere Freiheit nutzen? Zur Errichtung was für einer Welt wollen wir unsere politische und öffentlich-rechtliche Freiheit nutzen? Damals musste hierzu und aus diesem Grunde der zweite Systemwechsel im Jahre 2010 geschehen. Um mich an die Worte des Herrn Kardinals anzuschließen und die Erinnerung an József Antall zu beschwören: Wir haben getan, wozu er geraten hatte. 1990 sagte er: „Hätten Sie doch, bitteschön, Revolution gemacht!” Wir haben eine 2010 gemacht, eine Zweidrittel-, eine konstitutionelle Revolution. Die Richtung des zweiten Systemwechsels deutet nicht zurück, nicht nach hinten, das ist kein Systemrückwechsel. Die Richtung des zweiten Systemwechsels zeigt nach vorne, gibt etwas zum ersten hinzu, korrigiert und erweitert den ersten, ja gibt ihm einen Sinn, gibt dem ersten Systemwechsel seinen Sinn. Wie nennen wir diesen zweiten Systemwechsel?

Meine lieben Freunde!

Das hat sich noch nicht entschieden, beziehungsweise jeder sagt alles Mögliche, und der allgemeine Konsens hat sich noch nicht festgesetzt. Wir können es auch einen nationalen Systemwechsel nennen, doch wäre es auch nicht unberechtigt, ihn als einen christlichen Systemwandel zu bezeichnen. Christlicher Systemwechsel, die Christdemokratie zum Ergebnis hatte, in deren Mittelpunkt die christliche Freiheit steht. Die Beschreibung des in diesem Zeichen entstandenen christlich-demokratischen Staates, seine Pfeiler und seinen Rahmen gibt die zu Ostern 2011 angenommene Osterverfassung, das heißt das Grundgesetz.

Vielleicht habe ich noch Zeit, um kurz über den Unterschied zwischen der liberalen und der christlichen Freiheit zu sprechen, so wie er aus dem Sessel des Ministerpräsidenten erscheint. Die liberale Freiheit lehrt, alles sei zulässig, was nicht die Freiheit des anderen verletzt. Die christliche Freiheit lehrt: Das, was du nicht willst, was man dir zufüge oder mit dir mache, das füge auch du nicht anderen zu, und auch im positiven Sinne. Die liberale Freiheit bedeutet, die Gesellschaft sei eine Menge miteinander im Wettbewerb stehender Individuen, die nur durch den Markt, das wirtschaftliche Eigeninteresse und die Rechtsvorschriften zusammengehalten werden. Laut der christlichen Freiheit ist die Welt aber in Nationen eingeteilt worden und die Nation ist die kulturell und historisch bestimmte Gemeinschaft der Individuen. Eine organisierte Gemeinschaft, deren Mitglieder man schützen und darauf vorbereiten muss, gemeinsam in der Welt zu bestehen. In Wirklichkeit verbindet sie dies zu einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft. Laut des Kanons der liberalen Freiheit ist die intellektuelle Leistung, ist das produktive oder unproduktive Leben eine Privatangelegenheit, kann der moralischen Beurteilung durch die Gemeinschaft nicht unterstellt und auch nicht unter die Gegenstände der Politik miteinbezogen werden. Laut der Auffassung der christlichen Freiheit verdient jene individuelle Leistung eine Anerkennung, die auch dem Wohl der Gemeinschaft dient. Das Sorgen für sich selbst und die Arbeit, die Fähigkeit zur Schaffung einer eigenen Existenz, das Lernen und eine gesunde Lebensweise, das Zahlen der Steuern, die Familiengründung und das Erziehen von Kindern, die Fähigkeit, sich in den Angelegenheiten der Nation zurecht zu finden, Teilnahme an der Selbstreflexion der Nation. Die christliche Freiheit erachtet diese Leistung moralisch als für wertvoller, sie anerkennt und unterstützt sie. Laut der Lehre der liberalen Freiheit müssen die liberalen Demokratien schließlich miteinander verschmelzen, sie müssen im Zeichen des liberalen Internationalismus eine Weltregierung, eine globale Regierung erschaffen. Laut dieser liberalen Auffassung wäre der europäische Grundpfeiler dieser neuen Weltregierung die Europäische Union verbunden mit den Clinton–Sorosschen Vereinigten Staaten. Das wäre jenes ausschließlich auf den nüchternen Verstand aufgebaute liberale Reich, auf das bereits uns auch Kant, Immanuel Kant aufmerksam gemacht hat. Sie können deutlich sehen, dies ist eine alte Geschichte. Laut der Lehre der christlichen Freiheit sind die Nationen ebenso frei und souverän wie die Individuen, man kann sie nicht unter die Gesetze einer globalen Regierung zwingen. Nach dem christlichen Denken unterdrücken die Imperien notwendigerweise die Nationen, deshalb sind sie gefährlich, so auch nicht wünschenswert.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Vorsitzender des KÉSZ!

Heute herrscht in unserem Leben noch der liberale Zeitgeist. Der liberale Zeitgeist hat auch die Hegemonie des Westens über die Welt im 19. und 20. Jahrhundert erschaffen. Jetzt beginnen aber andere Winde zu wehen. Diese Weltordnung ist erschüttert, es vollzieht sich eine geopolitische und strategische Umordnung. Hinzu kommt noch, dass wir auch Teil einer technologischen Revolution sind, und so etwas hat es noch nicht gegeben. Revolution im Internet, auf dem Gebiet der sozialen Medien und der künstlichen Intelligenz. Wie das der Präsident der Franzosen in den vergangenen Tagen sagte: „Die technologische Revolution führt zu einem wirtschaftlichen und anthropologischen Gleichgewichtsverlust. Eine tiefgreifende anthropologische Wende vollzieht sich in Europa und vielleicht auch außerhalb dessen. Die sich in der Welt der Vorstellung, der Gewalt und des Hasses vollziehenden Veränderungen führen zur Verwilderung der Welt.” Das sagt der Präsident, und ich glaube, er hat Recht. Die europäische Zivilisation steht tatsächlich vor einer entscheidenden Veränderung. Die sich auf die liberale Freiheit aufbauenden liberalen Demokratien sind nicht mehr in der Lage, Europa eine Sendung, einen Sinn zu geben, sie können nicht sagen, was der tiefere Sinn der Existenz Europas sein soll. Was wäre denn das, was nur Europa vertritt, und das mit dem Untergang Europas für die Welt verlorenginge? Was wäre denn der europäische Zivilisationsplan? Die Antwort von Christdemokraten, wie wir es sind, auf diese neue Situation lautet: Europa besitzt eine klare zivilisatorische Mission. Europas Sendung ist es, die christliche Freiheit und jene Lebensform zu erschaffen, immer wieder zu errichten, die auf diese christliche Freiheit aufbaut.

Im Gegensatz zu den ihre Mission verlorenen liberalen Demokratien äußert sich heute in Mitteleuropa eine kulturelle und zivilisatorische Lebenskraft, die offensichtlich dem Christentum entspringt. All das wird immer deutlicher sichtbar, es ist vielleicht kompliziert, doch es wird immer deutlicher. Bisher haben wir in Mitteleuropa die Angriffe der die christliche Freiheit bedrohenden, die christliche Kultur Europas aufgeben wollenden Liberalen erfolgreich abwehren können. Auch die die christliche Freiheit von außen gefährdende Bedrohung, die Migration, gelang es uns bisher in Mitteleuropa zu bremsen. Das ist eine weit bekannte Tatsache. Bei manchen löst dies Zorn, bei anderen Anerkennung aus, und es gibt auch solche, für die dies als Ermunterung und Inspiration dient. Seien wir nicht bange, es auszusprechen, denn es sieht ja schon ein jeder: Ungarn ist die Stadt, die auf einem Berge liegt, und es ist allgemein bekannt, dass diese nicht verborgen bleiben kann. Wir sollten zu dieser Mission emporwachsen, schaffen wir uns das wahre, tiefe sowie höherwertige Leben, das wir auf das Ideal der christlichen Freiheit aufbauen können, und zeigen wir es der Welt, wie es beschaffen ist. Vielleicht wird dies zu einem Rettungsring, nach dem das verstörte, seine Orientierung verlorene und durch verhängnisvolle Probleme gemarterte Europa seine Hände ausstrecken wird. Vielleicht werden auch sie die Schönheit dessen erkennen, wenn die Arbeit des Menschen zugleich seinen Interessen, dem Wohl der Heimat und dem Ruhm Gottes dient.

Ich wünsche einen glücklichen dreißigsten Geburtstag! Gott segne die christlichen Intellektuellen. Vorwärts Ungarn!